Entgrenzung – wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen

Noch vor dem Aufstehen checken wir erste Mails, telefonieren auf dem Weg zur Arbeit mit Kollegen, schicken dem Partner vom Büro aus mal schnell ein Selfie und gehen abends die Präsentation für den nächsten Tag durch. Willkommen in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Privateben immer mehr verschwimmen! Hallo Entgrenzung! Was dieser Begriff konkret bedeutet, welche Chancen, aber auch Herausforderungen er mit sich bringt und wie ein stressfreier Balanceakt gelingt, erfährst du hier.

Was versteht man unter dem Begriff der Entgrenzung?

Vereinfacht gesagt ging man früher bis in die 60er Jahre morgens in die Fabrik, arbeitete dort acht Stunden lang und widmete sich danach der Familie, Freunden und seinen Hobbies. Früher fand die Erwerbsarbeit also typischerweise außerhalb des Privaten statt und grenzte sich somit räumlich und zeitlich vom „echten Leben“ ab. Man spricht hierbei vom „Normalarbeitsverhältnis“, was es heutzutage natürlich auch noch gibt, aber unsere moderne Arbeitswelt durch eine massive „Entstandardisierung und Flexibilisierung“ nicht mehr dominiert (Schier et al.).

Entgrenzung meint also im Allgemeinen die Erosion fester Grenzen zwischen der Arbeitswelt und dem Privatleben und wird als Fachbegriff im arbeitspsychologischen und soziologischen Kontext seit den 70er Jahren verwendet. Pangert et al. definieren Entgrenzung als einen „wechselseitigen Prozess zwischen Lebenssphären“, bei dem sich sowohl die Grenzen der Arbeit als auch die des Privatlebens auflösen können.

Dabei beschreibt er nicht nur eine randständige Entwicklung, sondern einen gesellschaftlichen Wandel, den wir alle spüren und erleben. Dabei ist eine tendenzielle Lösung der Arbeit von der Bindung an bestimmte Orte zu verzeichnen sowie die Entwicklung zu atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung oder Selbstständigkeit (Schier et al.).

Die räumliche und zeitliche Flexibilisierung von Arbeit gilt als eine der Entwicklungstendenzen der Entgrenzung (Hirsch-Kreinsen & Minnsen), die es beispielsweise erlaubt, Gleitzeit zu nutzen, unterwegs am Laptop zu arbeiten oder zu Hause dienstliche Telefonate zu führen. Andersherum ist es aber auch möglich, während der Arbeitszeit private Dinge über das Handy abzuklären und im Notfall für die Familie und Freunde erreichbar zu sein. Arbeitsplätze, an denen Beschäftige in ihrer regulären Arbeitszeit ohne „private Ablenkungen“ arbeiten und danach komplett vom Job abschalten können, sind heute nicht mehr üblich. Die Chancen liegen auf der Hand: Aus betrieblicher Sicht sind schnelle und flexible Reaktionen sowie internationale Vernetzung möglich, wodurch bisher nur begrenzt zugängliche Ressourcen freigesetzt werden.

Die zweite Tendenz der Entgrenzung lässt sich mit Subjektivierung umschreiben. Damit ist eine tendenzielle Entwicklung des Berufstätigen vom Objekt zum Subjekt gemeint. Der Mensch wird also nicht mehr nur als pure Arbeitskraft gesehen, sondern als Human Beeing – als Individuum mit wichtigen Eigenschaften wie Kreativität, Kooperationsfähigkeit, Empathie und der Fähigkeit der Selbststeuerung und Selbstorganisation der eigenen Arbeit (ebd.). Auf der einen Seite steht also das Individuum, das sich in den Job einbringen und weiterentwickeln kann, und auf der anderen Seite profitiert das Unternehmen von dieser Einsatzbereitschaft.

Halten wir fest: Wir sind also auf Arbeit auch ein Privatmensch, aber im Privaten auch ein „Arbeitsmensch“.

Wie kommt es zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung?

Es liegt auf der Hand, dass neue Informations- und Kommunikationsmedien zur Entgrenzung der Arbeitswelt beitragen. Schließlich ist es erst durch Handys, Tablets und Co. möglich, auch nach der regulären Arbeitszeit beruflichen Tätigkeiten nachzugehen oder an flexiblen Orten auf Arbeitsmaterialien digital zuzugreifen. Wir sprechen von einer „erweiterten Erreichbarkeit“. Laut Pangert et al. ist hiermit die „Verfügbarkeit von Arbeitenden für Arbeitsbelange bzw. von Arbeitsbelangen für Arbeitende, welche sich über die Arbeitsdomäne hinaus auf andere Lebensbereiche erstreckt“ gemeint.

Meine Freundin und Arbeitspsychologin Karoline Schubert erklärt mir in einem Interview, dass auch der hohe Stellenwert der Selbstverwirklichung zur Entgrenzung beiträgt. „Viele Menschen identifizieren sich sehr stark mit ihrem Job und sind gern bereit, auch abends oder am Wochenende zu arbeiten.“ Dabei redet sie nicht nur von Selbstständigen und Unternehmern, sondern z.B. auch von der Erzieherin, die am Sonntagabend besorgte Mails von Eltern beantworten. Wir können an dieser Stelle also den Kreis zur oben beschriebenen Subjektivierung schließen.

Außerdem führt Schubert das veränderte Rollenverständnis in unserer modernen Gesellschaft an. Entgegen der klassischen Rollenverteilung haben heute auch Mütter die Möglichkeit, voll berufstätig zu sein und umgekehrt können auch Väter „in die Erzieherrolle schlüpfen“. Es gibt heutzutage eine große Vielfalt an Haushalts- und Familienformen, denen die Arbeitswelt mit mehr Flexibilität für eine bessere Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf begegnet. Wir beobachten neben der veränderten Arbeitswelt also auch einen grundlegenden Wandel in den Familien als „zunehmend haushaltsübergreifende, multilokale Netzwerke“ (Schier et al.) – sozusagen eine doppelte Entgrenzung.

„Work-Life-Balance“ – ein ausgedienter Begriff?!

Es sollte deutlich geworden sein, dass eine strikte Trennung zwischen Arbeit und Leben, die mit einer traditionellen Arbeits- und Rollenverteilung verbunden war, ins Wanken gerät. Wir haben es mit einer regelrechten Verschränkung gesellschaftlicher Sphären zu tun. Karoline Schubert erklärt in diesem Zusammenhang, dass der viel verwendete Begriff „Work-Life-Balance“ nicht korrekt sei. Er suggeriere, dass es einen Unterschied zwischen Arbeit und Leben gebe. Im Zeitalter der Selbstverwirklichung und oft starken Identifikation mit den Rollen als Arbeiter UND als Familienmensch sei dieses Konzept aber überholt. Im arbeitspsychologischen Kontext spricht man daher von einer „Life-Domain-Balance“. Dies bedeutet, verschiedene Lebensbereiche wie Arbeit, Familienleben und Hobbies in Einklang zu bringen. Auch ich möchte im Folgenden diese Begrifflichkeit verwenden.

Chancen und Risiken

Natürlich bietet die Flexibilisierung von Arbeitszeit- und raum individuelle Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im (Familien-)Alltag, was unserem modernen Verständnis von Lebensqualität und Selbstbestimmung entspricht. Durch Digitalisierung und flexible Arbeitszeiten fallen im Konkreten z.B. lange Pendelzeiten weg, die Arbeitszeiten können besser mit der Kinderbetreuung vereinbart werden und auch Hobbies lassen sich gut im Alltag integrieren. So kann für das Vereinstraining am Nachmittag auch mal früher Feierabend gemacht werden.

Außerdem empfinden es die meisten als positiv, sich als Persönlichkeit in die Arbeit einzubringen und weiterentwickeln zu können. Persönlichkeitsentwicklung gewinnt mehr und mehr an Relevanz und wird von einigen Arbeitgebern auch bereits aufgegriffen und durch Workshops und Co. gefördert.

Dennoch zeigt sich Entgrenzung als ambivalenter Prozess, der sowohl mit Chancen als auch Risiken verbunden ist.

Durch den Übergriff der Arbeits- auf die Lebenswelt (oder andersherum) kommt es laut Schubert zu einer fehlenden Strukturierung von außen, sodass sich entsprechende Grenzen selbst gesucht werden müssen. Die Balance zwischen der ursprünglichen Trennung von Arbeit und Leben muss also selbst gefunden werden. Viele seien mit dieser Selbstorganisation jedoch überfordert.

Durch verlängerte Arbeitszeiten über die reguläre Arbeitszeit hinaus kann es weiterhin zu Überlastungen und fehlenden sozialen Beziehungen kommen. Pangert et al. verdeutlichen in einer Untersuchung von 42 Studien, dass sich vor allem die erweiterte Erreichbarkeit negativ auf die Life-Domain-Balance auswirkt. Zu den Beeinträchtigungen des Befindens zählen z.B. Erschöpfung, Stress, Probleme abschalten zu können, Beziehungsprobleme sowie Rollenkonflikte als Arbeits- und Familienmensch.

Hinzu komme der verspürte Druck durch Erwartungshaltungen gegenüber dem arbeitenden Individuum. Schreibt nämlich der Vorgesetzte z.B. Samstagabend eine Mail, fühlt sich der Angestellte verpflichtet, ebenso am Wochenende dienstliche Nachrichten zu mailen. Diese aktiv geäußerte oder auch unbewusst wahrgenommene Erwartung, außerhalb der Arbeitszeit für Arbeitsbelange erreichbar zu sein, steht laut Pangert et al. nachweislich in Zusammenhang mit der Beeinträchtigungen des Privatlebens.

Um solch negativen Effekten der Entgrenzung entgegenzuwirken, müssen sich Grenzen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen unter Rückgriff auf persönliche  Ressourcen selbst gesetzt werden. Dabei beschreiben Ressourcen „Aspekte der Arbeit, die die Zielerreichung befördern, Arbeitsanforderungen und deren Folgen reduzieren oder persönliches Wachstum und Entwicklung anregen“ (Pangert et al.). Dadurch soll die eigene Gesundheit erhalten, aktiv aufgebaut oder wiederhergestellt werden. Es lassen sich folgende, allgemeine Empfehlungen ableiten.

Strategien für eine ausgeglichene Life-Domain-Balance

Je mehr Kontrolle wir über die Grenzen von Arbeit- und Privatleben verspüren, desto höher ist das Wohlbefinden (Kossek). Ein Bekannter erzählte mir z.B., dass er mit seinen Schichtleitern vereinbart hätte, dass er bis 22:30 für Notfälle auf seinem Privathandy erreichbar sei. So übt er Kontrolle über seine Verfügbarkeit aus und hat dennoch das Gefühl, seinem Job verantwortungsbewusst nachzukommen – auch über die reguläre Arbeitszeit hinaus. Problematisch ist es dann, wenn Entscheidungen nur einseitig vom Arbeitgeber ausgehen und die Arbeitszeit- und Reiseplanung unzuverlässig und kurzfristig sind. Kommunikation ist also das A und O. Auch mit Vorgesetzten empfehlen sich Regelungen und transparente Erwartungen, z.B. über Kompensation von Erreichbarkeitszeiten, feste Zeiten für (Nicht-)Erreichbarkeit, Vertretungsregelungen für Urlaub oder im Krankheitsfall oder die Zeitspanne, in der reagiert werden muss. Führungskräfte spielen für eine ausgeglichene Life-Domain-Balance also eine zentrale Rolle (Kossek).

Durch unsere Smartphones ist es möglich, sehr schnell zwischen arbeitsbezogenen und privaten Texten hin und her zu springen, was die Konzentration auf eine Domäne erschwert. Das Privathandy sollte am Arbeitsplatz auf stumm geschaltet und nur zu bestimmten Zeiten mal einen Blick darauf geworfen werden. Umgekehrt gibt es auch zu Hause Möglichkeiten, die Verfügbarkeit zu reduzieren. So könnten dienstliche E-Mails nicht auf das Privathandy geleitet, eine Zeitspanne zur arbeitsbezogenen Kommunikation festgelegt, aufschiebbare Nachrichten nicht sofort beantwortet oder sich ein Diensthandy zugelegt werden. Außerdem gibt es spezielle Apps, die bestimmte Störungen blockieren oder auch das eigene Nutzerverhalten analysieren können. Nach Kossek können solche Apps zu einem bewussteren Einsatz neuer Medien sensibilisieren und die gezielte Planung von Auszeiten erleichtern. Die gute Nachricht ist: Ein eigenverantwortlicher, vernünftiger Umgang mit technischen Möglichkeiten im Sinne einer „Monotaskingfähigkeit“ kann erlernt werden (ebd.).

Gerade in Zeiten der Corona-Krise sind viele Arbeitnehmer aus ihren gewohnten Strukturen gerissen und gemeinsam mit ihren Kindern ins Home Office verfrachtet wurden. Nach Schuberts Empfehlung sollte der Arbeitsalltag auch zu Hause aufrecht erhalten werden, um bewusst Grenzen zwischen dem Arbeits- und Privatleben zu ziehen. Konkret schlägt sie vor, morgens den Wecker zu stellen und wie gewohnt pünktlich aufzustehen, sich feste Pausen- und Arbeitszeiten zu setzen und einen Arbeitsplatz zu etablieren – das kann im besten Fall ein Büro, aber auch der Esstisch mit symbolischen „Grenzverstärkern“ wie eine Tischdecke im Privaten und ein Locher für die Arbeit sein. Außerdem könne es hilfreich sein, die Kleidung zu wechseln, um so eine gewisse Zeit bzw. Distanz zwischen verschiedenen Lebenssphären zu schaffen.

Karoline Schubert sagt jedoch, dass diese Maßnahmen generell natürlich nur dann Sinn machen, wenn man schlecht abschalten kann oder sich gestresst fühlt, wenn man eben noch keine Balance gefunden hat.

Die Bedeutung von Sport in einer entgrenzten Welt

Sport und Bewegung sind generell ein wichtiger Ausgleich, um mal abschalten zu können, Kraft zu tanken sowie Konzentration und Gesundheit zu fördern – aber das wissen wir bereits. Um das Training optimal nutzen zu können, sollte auch beim Sport sowohl dienstliche als auch private Kommunikation über digitale Endgeräte vermieden werden. Durch ablenkende Nachrichten kann die wohlverdiente „Quality-Time“ dann nämlich ihre Wirkung verlieren. Es ist wichtig, die eigene Freizeit bewusst und in Abgrenzung zur Arbeitssphäre zu gestalten.

Daneben bietet Entgrenzung aber auch ganz neue Möglichkeiten! Durch die Flexibilisierung können zeitintensive Sportarten wie Triathlon gut mit der Arbeits- und Familiensphäre vereinbart werden. Außerdem können wir z.B. mit dem Rad auf Arbeit fahren und vor Ort duschen, in der Mittagspause Yoga direkt am Arbeitsplatz praktizieren oder während des Indoor-Cyclings Mails beantworten.

Betriebliches Gesundheitsmanagement ist bereits in vielen Unternehmen angekommen, hat sein volles Potenzial jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Wenn sich der Mensch nämlich mit seiner ganzen Persönlichkeit in den Job einbringt, spielt seine geistige und körperliche Gesundheit eine wichtige Rolle für den Erfolg des Betriebs. Diese Erkenntnis muss zukünftig noch stärker in den Köpfen der Betriebsführung verankert werden, sodass gesundheitsfördernde Maßnahmen ergriffen werden. Aus meinem Umfeld kenne ich Aktionen wie eine wöchentliche Yogastunde, betriebseigene Trainingsräume, einen „gesunden Schrank“, in dem z.B. Rezepte ausgetauscht werden und gesunde Snacks bereit stehen, bewegte Pausen durch einen externen Trainer sowie Workshops zu verschiedenen Themen wie Zeitmanagement, gesunde Ernährung oder Entspannungsmethoden.

Fazit

Heutzutage sind die „Normalfamilie“ sowie das „Normalarbeitsverhältnis“ nicht mehr zeitgemäß. Wir führen alle völlig unterschiedliche Lebensstile, denen die Arbeitswelt mit mehr Flexibilität begegnet bzw. begegnen muss. Während die einen Berufs- und Privatleben lieber weitestgehend voneinander trennen, genießen die anderen die vielen Entwicklungs-, Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Fühlt man sich durch die erweiterte Erreichbarkeit gestresst und unter Druck gesetzt, müssen individuelle Maßnahmen des aktiven Strukturierens für eine ausgeglichene Life-Domain-Balance gefunden werden.

Entgrenzung bestimmt unseren Alltag in mehreren Facetten – nun liegt es an uns, dieses Potenzial zu nutzen.

 

Elisa Dambeck

 

Quellen

Hirsch-Kreinsen, H., Minssen, H. (2017). Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. 2. Aufl., 117-120: Nomos.

Kossek, E.E. (2016). Managing work-life boundaries in the digital age. In: Organizational Dynamics, 45(3), 258–270.

Pangert, B., Pauls, N., Schüpbach, H. (2016). Die Auswirkungen arbeitsbezogener erweiterter Erreichbarkeit auf Life-Domain-Balance und Gesundheit. 2. Aufl.: Bundesschutz für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Schier, M., Jurcyk, K., Szymenderski, P. (2011). Entgrenzung von Arbeit und Familie – mehr als Prekarisierung. In: WSI Mitteilungen 8/2011, 402-408.

 

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